Erziehung

Geliebte Rivalen

Sie lieben und sie hassen sich. Sie tun sich weh und sie tun einander gut. Geschwister können die engsten Verbündeten sein, aber auch die ärgsten Rivalen. Warum streiten Geschwister? Wie gehen wir mit diesen Konflikten um und wie funktionieren gelungene Geschwisterbeziehungen?

Von klein auf bewegen sich Geschwister in einem Spannungsverhältnis von Nähe und Abgrenzung, von Zuneigung und Rivalität. Jeder Neuzuwachs in der Familie bedeutet mehr Trubel. In den Kinderzimmern wird vielfach gehaut, gestoßen, gestichelt, gepetzt und geweint. Und völlig entnervte Eltern fragen sich, wie ein friedliches Miteinander jemals funktionieren kann.

Bloß keine falschen Erwartungen

„Jedes Kind ist anders und braucht unabhängig von der Geschwisterposition etwas anderes“, sagt Nicola Schmidt. Die Elternberaterin zeigt in ihrem Buch „Geschwister als Team“ Wege auf, wie sich Brüder und Schwestern statt zu Rivalen zu einem starken Team entwickeln können. Dass etwa ein Neugeborenes die volle Aufmerksamkeit braucht, ist unbestritten. Das müsse aber gleichzeitig nicht bedeuteten, dass das ältere Geschwisterkind nun auf einmal „groß“ sein muss. Gerade bei enger Geschwisterfolge (weniger als drei Jahre Abstand) sollte man Situationen schaffen, in denen auch das größere Kind so viele Bedürfnisse wie möglich erfüllt bekommt. Wenn also plötzlich Kindergartenstreik angesagt ist oder der Schnuller wieder verlangt wird, sollten Eltern möglichst gelassen bleiben.

Manche Kleinkinder bewerfen ihre Babygeschwister mit Bausteinen. Andere verhalten sich auffallend still. Wieder andere kümmern sich rührend um ihre kleineren Geschwister. „Wie Geschwisterbeziehungen verlaufen, hängt immer auch stark vom Temperament und von der Entwicklungsphase ab, in der sich die Kinder gerade befinden“, weiß Schmidt. Ist ein weiteres Geschwisterchen unterwegs, sollte man sich jedenfalls schnell von falschen Erwartungen verabschieden. Das zweite, dritte oder vierte Kind müsse nämlich nicht – wie vielfach postuliert – einfach so „nebenbei“ laufen, und Erstgeborene sind nicht zwangsläufig fürsorglich und vernünftig. Zu bedenken sei auch, dass Geschwister sich nicht lieben müssen. Wir können lediglich Fairness und Respekt erwarten. Mehr nicht. „Als Eltern können wir uns stets bewusst dafür entscheiden, welche Werte wir unseren Kindern mitgeben und welche nicht.“ Unsere Kinder spiegeln diese Werte: Geht es in unserer Familie etwa darum, einander zu verstehen, oder darum, zu gewinnen? Liegt der Fokus auf der Gruppe oder auf den Interessen des Einzelnen?

Rollen verstehen und vermeiden

Jedes Kind erlebt die Familie für sich anders, weil es beispielsweise von Eltern oder Geschwistern anders behandelt wird – oder sich zumindest anders behandelt fühlt. Tatsächlich sucht sich jedes Kind in der Familie seine Nische. „Meine Große, mein Engelchen, unser kleiner Professor – mit dem, was wir sagen, und dem, was wir tun, weisen wir unseren Kindern oft einfach so nebenbei Rollen zu“, sagt Nicola Schmidt. In vielen Mehrkindfamilien können wir oft Gegensätze beobachten, wie etwa „die Wilde“ versus „der Ruhige“. Ist ein Kind „schwierig“ oder „aufbrausend“, wird ein anderes versuchen, eher die Rolle des ruhigen Kindes einzunehmen. So weit, so normal.

Doch meistens verstärken Eltern und Verwandte diese Tendenzen, indem sie einmal festgelegte Rollenzuweisungen nicht mehr verändern. Temporäre Emotionen wie Wut, Angst oder Fröhlichkeit werden oft gerne als stabile Persönlichkeitsmerkmale gesehen. Der „kleine Wüterich“ verinnerlicht infolgedessen seine Rolle, kann einen Stempel fürs Leben haben und die Gefechte mit den Geschwistern verschärfen sich. Wird ein Kind in seiner Rolle erst bewertet und dann auch noch mit einem anderen verglichen, sind Geschwisterkämpfe ebenso garantiert. „Du kleiner Wüterich! Sei doch mal so ruhig wie deine Schwester!“ „Schau, dein Bruder isst Salat, du nicht.“ Vergleiche sind zwar verführerische Mittel zur Gehorsamkeit, aber wie Gift für gesunde Geschwisterbeziehungen. „Wir können Vergleiche vermeiden, indem wir jede Bewertung und Gegenüberstellung aus unserem Leben verbannen“, empfiehlt Schmidt. „Unsere Aufgabe als Eltern ist es, möglichst nicht Partei zu ergreifen und die Kinder immer wieder aus ihren Rollen herauszuholen.“ Dementsprechend wichtig sei auch der richtige Umgang mit Talenten. Die Freude am Tun sollte im Vordergrund stehen, und diese Freude sollte nicht nur für die besonders Begabten reserviert sein. Jeder darf singen oder zum Judo gehen, einfach weil es Spaß macht.

Konflikte vermeiden und richtig streiten

Warum streiten Geschwister überhaupt? Biologisch betrachtet handelt es sich schlichtweg um einen natürlichen Konkurrenzkampf um Ressourcen. Heutzutage geht es freilich weniger ums Überleben. Dafür treibt der leidige Kampf am Esstisch oder das Ringen um Spielsachen oder die Poleposition Eltern teilweise in den Wahnsinn. Dabei dürften wir uns laut Schmidt in unserer Kultur, die von der Ich-Vorstellung geprägt ist, wenig darüber wundern. „In einer Gesellschaft, in der ‚Mein‘ und ‚Dein‘ wichtige Kategorien sind, gibt es nun mal andere Kämpfe als in anderen, in denen Besitz keine so große Rolle spielt.“ Grundsätzlich hat Streiten aber sein Gutes. Konflikte zu lösen ist genauso ein Lernprozess wie Laufen zu lernen.

Dabei sind die Kleinen auf die Unterstützung der Großen angewiesen. Greifen Eltern nämlich beim Streiten überhaupt nicht ein, wird am Ende das Recht des Stärkeren zementiert, bei dem keiner gewinnt. Warum? Das schwächere Kind beginnt zu resignieren, weil ihm niemand zu Hilfe kommt, und das dominantere bekommt vielleicht seinen Willen, lernt aber auf längere Sicht keine Konfliktlösungsstrategien. Die mögliche Folge: Alle leben mit jeder Menge angestauter Aggression, die jederzeit ausbrechen kann. Damit Kinder auf lange Sicht konstruktiver streiten, sollten Eltern als Coach auftreten und den Kindern helfen, Lösungen zu finden. Wichtig dabei: Es geht nicht um Ursachen oder Schuld. „Spielen Eltern erst Detektiv (‚Wer hat angefangen?‘) und dann Schiedsrichter (‚Wer ist Schuld?‘), befeuert das die Rivalität“, erklärt Schmidt.

Erwachsene sollten Ruhe bewahren und sich die einzelnen Streitpunkte anhören, ohne Stellung zu beziehen. Dann mit eigenen Worten das Gehörte zusammenfassen, also im Grunde beschreiben, was passiert ist und wie jeder sich gerade fühlt. Klingt die Aufregung ab, können Lösungen gesucht werden. Bei sehr kleinen Kindern sollten Erwachsene auch bei der Umsetzung mithelfen, also aktiv Alternativen mitgestalten, eventuell den Ort wechseln oder einfach kuscheln. Kuschelkurs, Kissenschlachten oder auch gemeinsames Raufen helfen auch dann, wenn Streit in der Luft liegt.

Nach einem langen Tag können viele Kleinkinder ab 16 Uhr oft nicht mehr gut kooperieren und brauchen Ventile, um „alles rauszulassen“. Erfahrene Eltern wissen: Bei müden, hungrigen oder gestressten Kindern kann die Stimmung schnell kippen. Es liegt an den Eltern, immer wieder für eine entspannte Atmosphäre zu sorgen. Daher zahlt es sich aus, den Kindern einen Schritt voraus zu sein. Also frühzeitig heimgehen, zu Abend essen und bettfertig machen. Und auch präventiv spielen. Soll heißen: sich mit unseren Kindern verbinden, lange bevor sie uns durch Streit darauf aufmerksam machen, dass sie uns brauchen. Sollen sich unsere Kinder vertragen, müssen wir das letztendlich auch vorleben. Prüfen wir also, wie friedlich wir unsere Konflikte lösen, ob wir aggressive oder harmonische Problemlösungsgespräche führen und wie sehr wir einander mit Respekt begegnen.

INFOS, LITERATUR UND WEITERFÜHRENDE LINKS

www.artgerecht-projekt.de

https://nicolaschmidt.de/blog.html

Nadine Hilmar: „Hand in Hand. Wie Geschwisterliebe wachsen kann“, BoD-Verlag

Jesper Juul: „Das Familienhaus. Wie Große und Kleine gut miteinander auskommen“, Beltz-Verlag

Nicola Schmidt: „Geschwister als Team. Ideen für eine starke Familie“, Kösel-Verlag

Forum

Diskutieren Sie über diesen Artikel

Insgesamt 0 Beiträge

Wir setzen Cookies auf dieser Website ein, um Zugriffe darauf zu analysieren, Ihre bevorzugten Einstellungen zu speichern und Ihre Nutzererfahrung zu optimieren. weitere Informationen

The cookie settings on this website are set to "allow cookies" to give you the best browsing experience possible. If you continue to use this website without changing your cookie settings or you click "Accept" below then you are consenting to this.

Close