Erziehung

„Bitte, tu mir nicht weh!“

Kinder, denen körperlich oder seelisch Gewalt angetan wird, sind ihr schutzlos ausgeliefert. Aber es gibt Unterstützung für Betroffene, Eltern und Helfer.

„Bitte, bitte nicht“ – bitterliches Schluchzen und Schreien ertönt aus der Wohnung nebenan. Dazwischen hört man das Geräusch von Schlägen. Dort wohnt Michi, 4, mit seinen Eltern. Für die Nachbarn sind solche Szenen vertraut. Aber was sollen sie tun? Bettina, 10, sitzt in ihrem Zimmer und spürt den vertrauten Knoten im Magen. Wieder einmal hat sie von ihrer Mutter gehört, dass sie ein unmögliches Kind ist und dass es besser wäre, sie hätte abgetrieben. Und dann gibt es Renè, 7. Er hat immer Angst, wenn er mit seinem Vater allein ist. Denn der macht dann so komische Sachen mit ihm. Es tut sehr weh, aber Renè traut sich nicht, etwas zu erzählen.

Darf man ein Kind schlagen oder seelisch misshandeln?

Laut einer Studie sagen nur 60 Prozent der Bevölkerung dazu Nein, obwohl Österreich 1989 als weltweit viertes Land nach Schweden, Norwegen und Finnland Gewalt in der Erziehung untersagt hat. Das ist auch in der Bundesverfassung verankert: „Jedes Kind hat das Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafung, die Zufügung seelischen Leids, sexueller Missbrauch und andere Misshandlungen sind verboten.“ Eine Untersuchung aus dem Jahre 2014 zeigt, dass nur knapp 60 Prozent der Bevölkerung dieses Gewaltverbot überhaupt bekannt ist. Aber jeder Schlag – körperlich oder seelisch – ist nicht nur einer zu viel, sondern verletzt die Würde eines Kindes.

Es gibt in Österreich also leider Kinder, für die die Familie keineswegs ein Ort der Sicherheit und der Geborgenheit darstellt. Dazu kommt, dass sie in der Regel nicht über ihr Leid sprechen. Sie senden nur stumme Hilfeschreie, von denen sie hoffen, dass sie erkannt werden. Hier muss das Umfeld sehr aufmerksam sein und lieber einmal zu oft nachforschen als gar nicht (siehe Interview auf Seite 30). Monika Pinterits ist Kinder- und Jugendanwältin der Stadt Wien. Sie sagt: „Gewalt kommt in allen sozialen Schichten vor, unabhängig vom Bildungsstand, wirtschaftlichem oder kulturellem Hintergrund. Bei Kinderrechtsverletzungen greifen wir ein, informieren über Kinderrechte und versuchen bei Problemen, diese zu lösen. In den meisten Fällen braucht es natürlich ein individuelles Vorgehen, da die Kinder ja von ihren unmittelbaren Bezugspersonen bedroht werden, von denen sie abhängig sind und die sie in der Regel trotz allem lieben.“

Ich habe Angst, wenn mein Vater nach Hause kommt.

Mike, 11

Zitatzeichen

„Ich habe Angst, wenn am Abend mein Vater nach Hause kommt. Meine Mutter sagt immer: „Warte nur, wenn Papa da ist, dann setzt es was.“ Dabei ist gar nichts Schlimmes vorgefallen. Es kann sein, dass ich etwas in der Schule vergessen oder nicht sofort den Mistkübel hinuntergetragen habe. Aber mein Papa ist sehr streng und schlägt mich dann. Manchmal verwendet er dazu einen Gürtel oder eine Rute, und ich muss die Schläge mitzählen. Meist sind es 25, aber manchmal auch mehr.“ – Mike, 11

Welchen Formen von Gewalt können Kinder ausgesetzt sein?

Physische Gewalt umfasst schlagen, schütteln, stoßen, treten, boxen, mit Gegenständen werfen, gegen die Wand schlagen, mit Zigaretten verbrennen, Vernachlässigung von Ernährung, Pflege und medizinischer Hilfe, aber auch Gewalt gegen Bezugspersonen, geliebte Haustiere oder die Zerstörung von für das Kind wichtigen Dingen. Hier kommt auch psychische Gewalt dazu. Sie ist die „stille Schwester“ aller Gewaltformen, da sie keine sichtbaren Wunden hinterlässt. Viele Kinder erleben sie täglich. Sie wird ihnen bewusst, aber ebenso oft auch ungewollt zugefügt, da Erfahrungen unterschiedlich verarbeitet werden. Was für das eine Kind noch Spaß ist, bedeutet für das andere schon Verletzung und Kränkung.

Im Besonderen wird unter psychischer Gewalt auch Folgendes verstanden: Angst machen, verspotten, abwerten, Unterdrückung, „Zuviel“ an erstickender Zuwendung, das Kind als Spielball in einer Scheidung, Partnerersatz, Überforderung, gezielte Entmutigung, Wegsperren, Beschimpfen, Beleidigen, sich über das Äußere lustig machen, in schwierigen Situationen keinen Trost spenden, sich von dem Kind abwenden, wenn es dringend Zuwendung braucht, Geburtstage „vergessen“, vor anderen lächerlich machen, Einschüchtern durch Schreien und Drohen. Sexueller Missbrauch bedeutet: jede sexuelle Handlung, die an einem Kind vorgenommen wird. Das geschieht zum überwiegenden Teil im engen Familien- und Bekanntenkreis.

Ich soll ins Heim kommen, weil ich lästig bin.

Beatrice, 12

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„Meine Eltern sagen oft, dass sie mich in ein Heim geben wollen, weil ich so lästig bin. Dafür fürchte ich mich sehr. Papa meint auch immer wieder, dass es eine Schande ist, dass Mama nur ein Mädchen auf die Welt gebracht hat, und er hätte lieber einen Buben gehabt. Manchmal sperren sie mich im Keller ein und sagen, ich soll darüber nachdenken, wie ich ein besseres Kind werden kann. Dann kommen sie nach einiger Zeit und fragen, ob ich es schon weiß. Aber ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll, und oft muss ich dann noch länger dortbleiben.“ – Beatrice, 12

Gewalt unter Kindern

Natürlich kann es auch zu Gewalt unter Kindern und Jugendlichen kommen. So fühlt sich nach Zahlen der OECD jeder zweite Schüler gemobbt. Mobbing existiert auch im Netz. Welche Rollen spielen dabei Videospiele und Social Media? Kinderanwältin Pinterits: „Gewalt, die online ausgeübt wird, etwa Cybermobbing (Beleidigungen, Verleumdungen, Hetze), Cybergrooming (Erwachsene machen sich an Kinder heran) oder Sexting (das Verbreiten von Nacktbildern in sozialen Netzwerken), kann genauso traumatisch sein wie in der Offline-Lebenswelt. Da ist durch das Internet noch eine Gefahrenquelle dazugekommen. Kinder können durch Videospiele oder Internetsurfen jederzeit Gewaltszenen konsumieren. Dadurch sind die Eltern besonders herausgefordert, ihre Kinder gut zu begleiten und aufzuklären.“ Jede Art von Gewaltbereitschaft eines Kindes oder Gewalterlebnisse, denen es ausgesetzt ist, sollten immer genau untersucht werden. Wenn die Kinder schon strafmündig sind, müssen sie auch wissen, was nach dem Strafgesetzbuch verboten ist. Natürlich können Kinder und Eltern sich auch hier Hilfe holen (siehe Kasten „Rat und Hilfe“).

Ich finde Schlagen nicht schlimm!

Ingrid, 38; Tochter 4, Sohn 2

Zitatzeichen

„Ich finde es überhaupt nicht schlimm, wenn Kinder auch mit Klapsen oder Ohrfeigen bestraft werden. Wie soll ich ihnen sonst vermitteln, dass sie sich schlecht benommen haben? Ich kann mit so kleinen Kindern doch nicht diskutieren oder etwas erklären. Neulich hat meine Tochter ihren neuen Pullover mit Filzstiften völlig ruiniert. Daraufhin habe ich ihr einige Schläge auf die „böse Hand“ gegeben. Sie hat zuerst geweint, sich aber dann schnell beruhigt. Es hat also sicher nicht so weh getan. Ich hoffe, sie merkt sich das jetzt. Mein Sohn wirft immer alles durch die Gegend. Wenn er das tut, bekommt er Klapse auf den Po. Ich wurde von meinen Eltern richtig geschlagen. Aber meist hatte ich es auch verdient.“ – Ingrid, 38 (Tochter 4, Sohn 2)

Wie können Eltern „gegen Gewalt“ erziehen?

Kinder sollten so früh als möglich lernen, ihre Gefühle oder Konflikte anders auszudrücken als mit Gewalt. Sie müssen ihre eigenen Grenzen kennen und die von anderen respektieren. Kinder lernen auch viel über das Vorbild, das ihnen die Eltern bieten. Dabei ist ein gewaltfreier Umgang in der Familie sehr wichtig. Das beginnt bei der Sprache und umfasst auch das Verhalten der einzelnen Mitglieder. Ein wertschätzendes und feinfühliges Klima im Familienverband ist somit die beste Vorbeugung gegen Gewalt.

Kinder sind den Erwachsenen ausgeliefert. Sie können nicht einen Koffer packen und unerträgliche Familienverhältnisse verlassen. Darf ein Kind Sie auch einmal wütend machen? Ja, das kommt vor. Ist Gewalt dann eine Lösung? Nein, auf keinen Fall! Suchen SIE Hilfe, wenn Sie auf körperliche oder seelische Strafen zurückgreifen. Die berühmte Kinderbuchautorin Astrid Lindgren hat einmal gesagt: „Man kann in Kinder nichts hineinprügeln, aber vieles herausstreicheln.“

RAT UND HILFE

An folgenden Stellen können sich Kinder, Jugendliche, Eltern und Helfer anonym und kostenlos beraten lassen:

► Rat auf Draht 147
► www.gewaltinfo.at, für alle Bundesländer
► www.familienberatung.gv.at, für alle Bundesländer
► Kinder- und Jugendanwaltschaft, für Wien 01/ 4000 8011
► Kinderschutzzentren, www.oe-kinderschutzzentren.at, für alle Bundesländer
► in Akutfällen: Polizei 133

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