Erziehung

Bin das noch ich?

Wir wollten nie so werden wie die eigenen Eltern. Doch nun ertappen wir uns dabei, ihre Wertvorstellungen und Glaubenssätze an unsere Kinder weiterzugeben. Deshalb heißt es: Entrümpeln! Nur wenn ich meine „Schatten“ ans Licht hole, habe ich die Möglichkeit, freie Entscheidungen zu treffen – Entscheidungen, die besser zu meinem Erziehungsideal passen.

Der Groschen fiel bei Timmys Geburtstagsparty. Dieser Gedanke, dass irgendetwas absolut nicht in Ordnung war, dass es sich anfühlte als trüge Andrea* (*Namen der Betroffenen von der Redaktion geändert) den Großglockner im Magen herum. Oder zumindest den Leopoldsberg. Eine ganze Weile schon, aber es ließ sich nicht so recht benennen. Erst ein paar Stunden (und ein paar abendliche Weingläser) später wusste die 40-Jährige, was es war: Sie war überhaupt nicht die Mutter, die sie immer sein wollte. Schlimmer noch: Sie war wie ihre eigene Mutter. Es fühlte sich an wie ein evolutionärer Totalschaden.

Der Nachmittag hatte begonnen wie so oft. Zur abgemachten Zeit war sie bei der Party aufgetaucht, um Sophie (9) abzuholen. Bloß dass Sophie noch nicht abgeholt werden wollte, mitten im schönsten Dixit-spielen – jetzt nicht und auch noch nach einer weiteren Runde nicht. „Ich hatte an dem Abend nichts weiter vor“, erinnert sich Andrea, „Ich hätte mich mit der Timmy-Mama und den anderen Abhol-Eltern noch auf einen Kaffee in die Küche setzen können. Das Auto stand in keiner Kurzparkzone. Es gab überhaupt keinen Grund, meinen Willen durchzusetzen. Aber genau das hab ich gemacht: Ich hab zu Sophie gesagt, was ausgemacht ist, daran muss man sich halten. Wir können nicht plötzlich alle Pläne umwerfen, nur weil du länger spielen magst. Eigentlich absurd, weil wir hatten gar keine Pläne … aber in dem Moment war mir nur wichtig, diese Regel durchzuziehen. Hätte ich nachgegeben, hätte ich als Erziehungsberechtigte versagt gehabt.“ Erst im Auto mit einer bitterlich am Rücksitz weinenden Sophie, begann sie selber zu weinen. Und sie begann, Fragen zu stellen: Warum eigentlich? Warum war dieser Aufbruch wichtig? „Weil man sich an Regeln halten muss“, antwortete eine innere Stimme, „Weil man eben manchmal Opfer bringen muss. Weil man es ohne Disziplin nicht weit bringt. Weil Kinder das lernen müssen.“

Deine Werte, meine Werte

Da hatte sie also Antworten. Dumm nur, dass es nicht die eigenen waren. „Diese Glaubenssätze stimmen für mich nicht“, sagt Andrea, „Ich bin schon für Disziplin – aber doch nicht um jeden Preis, und auch nur dort, wo es notwendig ist. Wenn du mich fragst, ob ich lieber ein glückliches oder ein diszipliniertes, regelkonformes Kind habe, dann … ich meine, die Frage stellt sich gar nicht! Ich bin ja selber die Erste, die einen Apfel gegen ein Duplo tauschen würde.“ Und eine Auf-Partys-mal-länger-Versumperin sei sie selber auch … woher kam also dieses vehemente Disziplin-Credo?

„Wir übernehmen natürlich die Werte und Vorstellungen unserer eigenen Eltern“, erklärt die Psychologin und Autorin Stefanie Stahl, „diese Prägungen aus dem Elternhaus geben wir oft wie auf Autopilot an die Kinder weiter. Deshalb muss man sich im Umgang mit den eigenen Kindern auch immer fragen: Welche Werte habe ich denn eigentlich? Welche habe ich selbst aufgenommen? Finde ich die gut? Es ist ja nicht so, dass unsere Eltern uns immer nur Schlechtes vermittelt haben, da ist durchaus viel Gutes dabei. Wichtig ist nur, dass man hinterfragt: Sind es auch meine Werte? Ist das wirklich etwas, auf das ich selber Wert lege, oder übernehme ich das einfach unreflektiert von meinen Eltern?“ Nicht nur Menschen, meint Stahl, auch Gesellschaften würden sich stetig weiterentwickeln. Werte darauf abzuklopfen, ob sie in der aktuellen Lebenssituation noch Bestand haben sei daher „der Kern jeder persönlichen und gesellschaftlichen Weiterentwicklung“ – und am Beginn dieses Prozesses steht etwas, das gar nicht so einfach ist: die eigenen Werte identifizieren. Stahl: „Den meisten Menschen sind ihre Werte gar nicht so bewusst, oder sie werden ihnen erst dann bewusst, wenn einmal dagegen verstoßen wurde, wie zum Beispiel bei Gerechtigkeit.“ Man kann also durchaus das eigene Wertesystem durchforsten wie Aufräum-Guru Marie Kondo einen Kasten voller Gerümpel: stückweise in die Hand nehmen und überlegen „Brauche ich das? Macht mich das glücklich?“ Wenn nicht, dann in Dankbarkeit loslassen …

Leitbild zum Anhalten

In dem Buch, das Stahl gemeinsam mit ihrer Kollegin Julia Tomuschat (siehe Interview) verfasst hat, empfehlen die Autorinnen, nach dem Entrümpeln die eigenen Werte noch zu einer Art „Familienmotto“ zu verdichten, etwa vergleichbar mit dem Leitbild eines Unternehmens: „Wir Meiers haben ein Zuhause, in das jeder gerne kommt“ oder „Markus und Lisa – Eltern – klar und liebevoll“. Das Festschreiben der Werte hilft, denn Erziehungsarbeit ist täglich unsicheres Terrain. Da gibt ein klarer Bezugsrahmen Orientierung; das eigene Tun lässt sie sich durch ihn leichter „beWERTen“. „Meine Werte sind: Empathie, Geborgenheit und Platz zum Entfalten“, sagt Andrea, „Für meine Mutter war Pflichtbewusstsein ganz wichtig. Das ist auf meiner Liste nicht unter den Top Ten. Aber das war mir bei Timmys Geburtstag so nicht klar.“ Das Ergebnis ist bekannt: viele Tränen bei Mama und Sophie. Weil uns Werte eben oft erst bewusst werden, wenn gegen sie verstoßen wird. Denn dann tut’s weh. Aber – so Stahl – „ich gewinne auch eine Möglichkeit, mich selber weiterzuentwickeln – mit den Kindern zusammen. Je besser wir uns selbst im Auge haben, desto leichter können wir durchatmen und unseren Kindern gute Eltern sein.“

Interview

Es muss immer beide Pole geben: Autonomie und Bindung.

Stefanie Stahl und Julia Tomuschat

Zitatzeichen

Die Psychologinnen und Autorinnen Stefanie Stahl und Julia Tomuschat über die Herausforderung, sich dem Schattenkind zu stellen und eigene Kindheitserfahrungen nicht die Gegenwart bestimmen zu lassen.

Stefanie Stahl und Julia Tomuschat

Sie verwenden im Buch den Begriff des inneren Schattenkindes. Was kann ich mir darunter vorstellen?

Tomuschat: Das Schattenkind ist eine Metapher für die belastenden Prägungen aus der Kindheit – und das Schattenkind drückt sich oft in Glaubenssätzen aus wie zum Beispiel „Ich genüge nicht“. Wenn ich selber den Eindruck habe, ich genüge nicht, dann wird mein Selbstwertgefühl – das im Grunde genommen wackelig ist – erst recht auf die Probe gestellt, wenn ich bei meinen Kindern etwas sehe, das ich als „ungenügend“ empfinde. Sagen wir, das
Kind ist nicht so gut in der Schule, dann fühle ich mich ungenügend und denke: Oh je, oh je, mein Kind muss erfolgreich sein, sonst bin ich als Vater oder als Mutter schlecht.

Welche anderen Erfahrungen prägen das Schattenkind?

Stahl: Unsere Erfahrungen mit Autonomie und Bindung, denn zwischen diesen beiden Polen spielt sich das ganze Leben ab. Bindung – das sind die Prinzipien der Zusammengehörigkeit, der Geborgenheit, der Kooperation, Zuwendung und Liebe. Das Prinzip der Autonomie ist die Frage: Wo unterscheide ich mich von dir? Wo muss ich meinen eigenen Weg gehen? Da sind wir stark davon geprägt, wie unsere Eltern in Bezug auf Bindung und Autonomie mit uns umgegangen sind, ob wir uns geliebt gefühlt haben oder vielleicht sogar erdrückt von der Liebe unserer Eltern, ob Selbstständigkeit gefordert wurde oder wir damit überfordert wurden, weil wir vielleicht zu früh zu selbstständig sein mussten. Diese Erfahrungen haben enorme Auswirkung auf unseren eigenen Erziehungsstil. Wenn ich zum Beispiel das Gefühl habe, meine Eltern hätten mich zu wenig umsorgt, dann können zwei Sachen passieren: Entweder verhalte mich mit meinen eigenen Kindern auch so, dass ich ihre Bedürfnisse nach Bindung nicht erfülle, oder ich überkompensiere und schlage auf die andere Seite …

Wie viel Geborgenheit und wie viel Autonomie braucht denn mein Kind? Gibt es da eine Regel oder ist das von der jeweiligen Persönlichkeit abhängig?

Tomuschat: Natürlich ist das individuell unterschiedlich, aber ganz grob kann man trotzdem sagen: Kleinere Kinder brauchen mehr von der Nestwärme, die brauchen die Bindung – und größere Kinder brauchen mehr Autonomie, dass sie ihre Flügel ausbreiten und ihre Schritte ins Leben gehen können. Die muss man loslassen.

Oft heißt es, das Loslassen beginnt bereits mit der Geburt …

Tomuschat: In gewisser Weise schon. Die ersten Bestrebungen nach Autonomie fangen schon beim Baby an. Die ersten autonomen Bewegungen spätestens, wenn es krabbeln kann. Aber auch schon vorher: Ein Kind kann das Köpfchen von der Mama wegwenden und auf diese Art etwas Eigenständiges initiieren. Und gleichzeitig weiß man: Ein Baby, um das sich keiner kümmert, stirbt. Es muss also immer beide Pole geben.
Stahl: Und genau hier liegen die persönlichen Herausforderungen für Mutter und Vater, da macht sich das innere Schattenkind oft bemerkbar. Aber wenn man es reflektiert, können genau diese Herausforderungen zu meinen besonderen Stärken werden.

Die Expertinnen

Stefanie Stahl und Julia Tomuschat sind Psychologinnen mit eigener Praxis und geben erfolgreich Seminare zur Arbeit mit dem inneren Kind. Stefanie Stahl ist Autorin mehrerer Bestseller (u. a. „Das Kind in dir muss Heimat finden“, deutscher Jahresbestseller 2017). Julia Tomuschat hat – als Mutter von zwei Kindern – die Methode auf die Erziehung adaptiert und erfolgreich erprobt. Mehr unter www.stefaniestahl.de und www.sonnenkindprinzip.de.

BUCHTIPP

Stefanie Stahl, Julia Tomuschat: Nestwärme, die Flügel verleiht

Halt geben und Freiheit schenken – wie wir erziehen, ohne zu erziehen

Verlag Gräfe und Unzer
Preis: 17,99 Euro

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