Bildung

Zusammenleben lernen

Nach mehr als 20 Jahren soll der Ethikunterricht vom Schulversuch zum regulären Unterrichtsfach werden. Allerdings nicht für alle Schüler und Schülerinnen.

Wie steht es um die Todesstrafe? Wie viel Toleranz erfordert gelungenes Zusammenleben? Welche Menschenrechte gibt es? Seit etwas mehr als 20 Jahren werden Fragen wie diese im Rahmen des Schulversuchs Ethik besprochen. Aktuell bieten rund 200 österreichische Schulen das Fach an. Immer wieder wurde seitdem darüber diskutiert, ob aus dem Schulversuch nicht vielleicht doch ein Pflichtfach werden sollte.

Anfang März dieses Jahres wurde die Diskussion aus Sicht der Regierung nun beendet und beschlossen, dass mit dem Schuljahr 2020/21 der Schulversuch Ethik an AHS-Oberstufen und an Polytechnischen Schulen zu einem regulären Unterrichtsfach wird. Ein Jahr später sollen laut Plan der Regierung die berufsbildenden mittleren und höheren Schulen nachziehen. Allerdings wird die Einführung nicht alle Schülerinnen und Schüler betreffen, sondern nur all jene ohne religiöses Bekenntnis wie auch jene Schüler und Schülerinnen, die sich vom Religionsunterricht abgemeldet haben.

Was von manchen als letzter großer Schritt nach einer langen, in sogenannten Babysteps zurückgelegten Strecke gesehen wird, ist für andere aber nur wenig zufriedenstellend. Kritik am von der Regierung vorgeschlagenen Modell kommt nicht nur von vielen Lehrern und Lehrerinnen, sondern auch von interdisziplinären Gruppierungen wie der von Eytan Reif koordinierten Plattform „Ethik für ALLE“. „Das Modell, das seitens der Regierung als großer Schritt vorwärts vermarktet wurde, ist in Wahrheit nichts mehr als die flächendeckende Einführung eines seit fast einem Vierteljahrhundert erprobten Schulversuchs“, erklärt Reif, der sich als Vorstand der Initiative „Religion ist Privatsache“ schon sehr lange mit dem Thema beschäftigt. Gefordert wird deshalb ein flächendeckender Ethikunterricht für alle Schüler und Schülerinnen, der nicht erst in der Oberstufe anfängt, sondern schon sehr viel früher. Auch die Meinungs- und Persönlichkeitsbildung beginne schließlich nicht erst im Alter von 15 Jahren. Gemeinsam ist allen kritischen Standpunkten vor allem eines: Es geht nicht darum, Religionsunterricht und Ethikunterricht gegeneinander aufzuwiegen und zu vergleichen, sondern darum, Ethikunterricht nicht als Ersatzprogramm zu betrachten, sondern als absolute Notwendigkeit für alle Schüler und Schülerinnen.

Kant und Klimawandel

Die Argumentation, dass auch im Religionsunterricht moralische Fragen besprochen und Welthaltungen diskutiert werden, stellt für Eytan Reif keine solide Diskussionsgrundlage dar: „Dass die Trennung nach Konfessionen bei der Werteerziehung eine desintegrative Wirkung hat, versteht sich meiner Meinung nach von selbst.“ Gerade in einem Fach, das sehr viel Dialog erfordert, kann dieser nur schwer stattfinden, wenn manche Schüler und Schülerinnen nach der Pause in Richtung Religionsunterricht abbiegen, während sich die anderen auf den Weg in den Ethikunterricht machen. Im besten Fall hat der Ethikunterricht aber eine zusammenführende Wirkung. Er bringt Kant und die aktuelle Diskussion rund um den Klimawandel, aber auch verschiedene Wertgerüste zusammen und dadurch die Schüler und Schülerinnen einander näher. Eine Beobachtung, die auch der Religionspädagoge Anton Bucher gemacht hat: „In einer Schule in der oberösterreichischen Stadt Grieskirchen konnte ich beobachten, wie eine Klasse mit vielen exjugoslawischen Schülern und Schülerinnen durch den Ethikunterricht zu einer Klassengemeinschaft
zusammengewachsen ist.

Auch im Unterricht von Georg Platzer, der seit acht Jahren das Unterrichtsfach Ethik an einer AHS in Baden unterrichtet, steht der Dialog im Vordergrund: „Ich finde, dass ethische Themen im Klassenverband diskutiert werden sollten, nicht in einzelnen Gruppen. Dabei geht nämlich der Kontakt zwischen unterschiedlichen Sichtweisen und Werthaltungen verloren, den ich für extrem wichtig halte“. Trotzdem können seiner Ansicht nach Teile des Ethikunterrichts auch im Frontalunterricht abgehalten werden. „Wenn es um umfangreiche Themenbereiche wie beispielsweise Medizinethik geht, mache ich das durchaus so. Um dieses theoretische Wissen dann zu vertiefen, sind natürlich auch Gespräche und das Arbeiten in Kleingruppen wichtig“, erklärt der Pädagoge. Mit seinen Unterrichtseinheiten möchte Platzer ein Bewusstsein für moralische Probleme und die grundlegenden Fragen des Zusammenlebens der Menschen schaffen. Besondere Konzentration liegt dabei auf kritischem Denken und der Entwicklung von Argumentationskompetenzen.

Fragen des Zusammenlebens

Zieht man die Aussage „Beziehung ist nicht alles in der Schule, aber ohne Beziehung ist alles nichts“ des Sozialpädagogen Herbert Stadler als Diskussionsgrundlage heran, fällt es schwer, die Forderung nach mehr Dialog in ethischen Fragen einfach so abzutun. Um herauszufinden, wie man in Zukunft zusammenleben möchte und wie es am besten gelingen könnte, eine solide Wertebasis zu schaffen, braucht es Eytan Reif und vielen anderen zufolge einen kompetent moderierten Austausch. Wieso es der verpflichtende Ethikunterricht für alle 2020 dennoch nicht in die Klassenzimmer schaffen wird, liegt laut Bundesminister Faßmann vor allem am finanziellen Aufwand. Der Ethikunterricht für alle Schüler und Schülerinnen der Sekundarstufe II würde jährlich etwa 90 Millionen Euro kosten und somit um 45 Millionen Euro mehr als das von der Regierung beschlossene Modell. Reif sieht darin aber eher einen vorgeschobenen Grund und ist sich sicher, dass politisch-ideologische Gründe dahinterstecken. Ein von Eytan Reif und der Plattform „Ethik für ALLE“ initiiertes Volksbegehren soll deshalb noch in diesem Jahr eingeleitet werden.

Forum

Diskutieren Sie über diesen Artikel

Insgesamt 0 Beiträge

Wir setzen Cookies auf dieser Website ein, um Zugriffe darauf zu analysieren, Ihre bevorzugten Einstellungen zu speichern und Ihre Nutzererfahrung zu optimieren. weitere Informationen

The cookie settings on this website are set to "allow cookies" to give you the best browsing experience possible. If you continue to use this website without changing your cookie settings or you click "Accept" below then you are consenting to this.

Close