Erziehung

Wie geht Langeweile?

Kiddy-Yoga, Klettern, Trommelworkshop, hier ein Kurs, dort ein Event. Die freie Zeit unserer Kinder ist ziemlich verplant. Wer ständig beschäftigt wird, verlernt aber das Nichtstun. Denn erst aus Langeweile heraus entwickeln Kinder ihre Erfindungsgabe und werden selber zu kreativen Gestaltern.

So ein warmer Sommervormittag konnte unendlich lang sein. Auf der Holzbank unter den alten Kastanienbänken sitzend. Zusammen mit der Oma, die dabei weder gestrickt hat noch gelesen. Vielleicht hat sie insgeheim die vorbeiziehenden Spaziergänger gezählt. Vielleicht aber auch nicht. Sie behauptete jedenfalls, sie schaue dem Gras beim Wachsen zu. Also haben wir Kinder es ihr gleichgetan. Wir beobachtete die noch vom Morgentau umhüllten Grashalme und übten mit unseren Sommersprossengesichtern das einfach nur so in die Luft Schauen.

Die Sache mit dem Graswachsen entstammt einem afrikanischen Sprichwort. Da heißt es tatsächlich: Man schaut dem Gras beim Wachsen zu. Wer am Halm zieht, damit es schneller wächst, der zieht ihn mitsamt seiner Wurzel aus der Erde. Der Grashalm welkt und verdorrt. Übertragen auf unsere Erziehung könnte das bedeuten: Geben wir Kindern überhaupt Raum und Zeit, um in ihrem Tempo zu wachsen und sich frei zu entfalten?

Rund-um-die-Uhr-Animations-Programm

Ein Blick in unsere von Beschleunigung und Leistungsdrang geprägte Gesellschaft lässt den Eindruck aufkommen, dass Kinder heute mehr und mehr im Zeitstress sind. Geigenunterricht, Trommelkurs, Naturworkshop, Lesekreis, Kletterhalle, Kiddy-Yoga: Der Alltag unserer Sprösslinge erscheint neben Kindergarten und Schule mit Nachmittagsbetreuung, Förderkursen, Sportcamps und Eventprogrammen zusehends durchorganisiert und verplant zu sein. Viele Eltern sind darum bemüht, in der freien Zeit permanent für Bespaßung und Beschäftigung zu sorgen. Obwohl gut gemeint, wird dabei häufig übersehen, dass sie ihren Kindern (und auch sich selbst) mit dem übermäßigen Entertainmentangebot keinen Gefallen tun. „Kinder sind keine Fässer, die mit Wissen angefüllt werden können“, sagt der deutsche Neurobiologe Gerald Hüther. „Viele Eltern erliegen dem Irrglauben, dass die Gehirne ihrer Kinder wie Muskeln trainiert werden können. Doch der tatsächliche Lernerfolg hängt von emotionalen Komponenten wie Begeisterung und Interesse ab“, so der Hirnforscher. Zeitfenster, in denen Kinder also sich selbst überlassen sind und Fantasie und Improvisationsgeist frei fließen können, seien für die kindliche Entwicklung von essenzieller Bedeutung. Wenn Langeweile für uns so wichtig ist, stellt sich die Frage, warum es uns scheinbar so schwer fällt, sie zuzulassen und auszuhalten. Oder anders rum: Wie können wir in unserer zerstreuten Zeit wieder mehr ereignisfreie Zeiten einstreuen?

Die Schönheit des Nichtstuns

Reden wir von Langeweile, ist der Gedanke hin zu Faulheit und Überdruss nicht mehr weit. Mit dem Tun, also mit Arbeit und Unterhaltungen, haben wir uns antrainiert, Trägheiten und Leerläufe zu vermeiden. Der französische Philosoph Blaise Pascal hat bereits im 17. Jahrhundert beschrieben, dass menschliches Tun eine einzige Flucht vor der Langeweile sei. Dabei müsste Langeweile keineswegs als Defizit betrachtet werden. Auf dem Bett zu liegen, vor sich hin zu träumen, gedankenverloren am Sofa zu dösen, im Gras zu lümmeln und in den Himmel zu schauen: Süßes Nichtstun kann auch als Quelle der Kraft und Kreativität gesehen werden. „Nur wenn der Mensch zur Ruhe kommt, dann wirkt er“, schrieb etwa der italienische Renaissance-Dichter Francesco Petrarca. Heute sind sich Psychologen, Pädagogen, Hirnforscher und Philosophen längst einig: Unsere Kinder brauchen wieder mehr lange Weile. Wie gut sie Kindern tut, hat unter anderem die US-Entwicklungspsychologin Teresa Belton untersucht. Nach jahrelanger Forschung kam sie zum Ergebnis, dass es einen deutlich erkennbaren Zusammenhang zwischen Langeweile bei Kindern und ihrer Vorstellungsgabe und Fähigkeit zur Kreativität gibt. „Langeweile ist eine wunderbare Chance“, sagt Belton. „Nur so kann der Geist eines Kindes flanieren lernen. Und nur mit einem vor dem ständigen Bombardement der Außenwelt immer wieder geschützten Geist können sich soziale Fähigkeiten und selbstständiges Vorstellungsvermögen entwickeln.“ Auch die kanadische Psychologin Vanessa Lapointe betont: „Kinder müssen in ihrer eigenen Langeweile versinken, damit die Welt um sie herum so still wird, dass sie sich selbst hören können.“

Mir ist so faaad!

Eltern sollten sich also vom Gedanken verabschieden, ihre Kinder ständig beschäftigen zu müssen. Insbesondere Helikoptereltern, die ihre Schützlinge kontrollierend umkreisen und meinen, sie permanent bei allem unterstützen zu müssen. Viele Eltern glauben, dass sie ihren Sprösslingen ständig etwas bieten müssen, indem sie Langeweile und Leerläufe tunlichst vermeiden. Doch genau so käme es laut Gerald Hüther überhaupt erst dazu, dass alles nur noch fad ist. „Wer ständig mit Aktivitäten vollgestopft wird, kann niemals die Muße entwickeln, seine freie Zeit selbst kreativ zu planen und zu gestalten“, erklärt der Neurowissenschaftler. Kein Wunder also, dass die Kinder dann am Ende jene bei Eltern so gefürchteten Sätze formulieren wie: „Mir ist so langweilig“ oder „Mama, mir ist so furchtbar fad“. Solche Aussagen können als Hilferuf an Eltern verstanden werden. Hilferuf deshalb, weil das Kind mangels Phasen des Nichtstuns immer mehr verlernt hat, seine freie Zeit frei zu gestalten und selber herauszufinden, womit es sich gerne beschäftigt. Sind die Kinder es denn einmal gewohnt, von außen immer stimuliert zu werden, sind Leergänge freilich schwer zu ertragen. Gleichzeitig können diese Fadheit-Bekundungen auch als Einladung verstanden werden. Und zwar dazu, dass Eltern Langeweile und ereignisfreie Zeiten wieder mehr aushalten und ihren Kindern mehr Beziehung statt Beschäftigung schenken. Wie wäre es also einmal mit weniger Animation, mehr Zuhören, gemeinsamem Nichtstun, Dösen oder vor sich hin Träumen? Wie wäre es, wenn wir uns mehr Raum geben, einfach nur wir selbst zu sein und unserer Fantasie freien Lauf lassen?

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