Bildung

Vom Krabbeln bis zur Algebra

So schnell wie in der Kindheit entwickelt sich das menschliche Gehirn nie wieder – gerade in den ersten Lebensjahren macht es rasante Fortschritte. In seinem neuen Buch gibt der deutsche Hirnforscher Martin Spitzer Einblicke in die Welt des kindlichen Denkens.

Krabbeln, Greifen, Sitzen, Stehen, Gehen, Sprechen – keine andere Phase in der menschlichen Entwicklung ist so bedeutend und so raschen Fortschritten unterworfen wie die ersten Lebensjahre. In ihnen macht ein Kind die entscheidendsten motorischen und auch kognitiven Fortschritte. Das Entstehen von Sprache gehört ebenso dazu wie die soziale Reifung und das Bewusstwerden des Ich. Hinter all dem steckt das wichtigste Organ des Menschen, das ihm zu dem macht, was er ist, seine Körperfunktionen steuert, für Denken und Emotionen verantwortlich ist: das Gehirn.

Das Wunder Gehirn

Doch was geschieht im kindlichen Gehirn, wenn es die Welt entdeckt? Wenn es im Kindergarten die ersten Freundschaften schließt und Sprachen lernt? Worin liegt der Unterschied zwischen dem Gehirn eines Sechsjährigen und dem eines Teenagers? Und warum sind Kinder eigentlich bessere „Memory“-Spieler als Erwachsene? Manfred Spitzer kennt die Antworten auf diese und viele weitere Fragen, denn er leitet die Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm sowie das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen. Der Psychiater gilt als einer der renommiertesten Gehirnforscher im deutschen Sprachraum und landet mit seinen Büchern zu Themen wie Gehirnentwicklung, Bewusstsein, Glück und Lernen regelmäßig auf den Bestsellerlisten. In seinem neuen Sachbuch „Wie Kinder denken lernen“ (mvg Verlag), das er gemeinsam mit dem Kinderarzt Norbert Herschkowitz verfasst hat, gibt der Gehirnexperte spannende Einblicke in die geistige Entwicklung von Babys und Kindern bis zum zehnten Lebensjahr

Bei kleinen Kindern ändern sich die Stärken der Verbindungen zwischen Nervenzellen, wenn sie benutzt werden, wesentlich stärker als bei Erwachsenen.

Manfred Spitzer, Gehirnforscher und Buchautor

Zitatzeichen

Sprechen, Sprechen, Sprechen

Wohl kaum eine Phase ist so intensiv wie die eines Babys: Sie ist die kognitive Formel-1-Strecke in der Entwicklung. „Je jünger das Kind“, betont Manfred Spitzer, „desto beeindruckbarer ist das Gehirn. Hinzu kommt allerdings, dass sich das Gehirn noch entwickelt, während es schon lernt. Gelernt wird immer durch die Benutzung der lernenden Strukturen. Das bedeutet: Wir lernen Laufen, indem wir es immer wieder versuchen. Wir lernen Sprechen, indem wir zunächst zuhören und dann irgendwann selbst anfangen mit dem Sprechen.“ Beim Erlernen der Sprache spielt der soziale Hintergrund eine entscheidende Rolle. So beträgt laut dem Experten der Unterschied zwischen einem Kind aus einer sozial starken und einem aus einer sozial schwachen Schicht bei seiner Einschulung 30 Millionen gehörte Wörter. Der Grund: Mit Kindern aus sozial starken Schichten wird bis zum sechsten Lebensjahr tendenziell mehr gesprochen. Dabei wäre gerade bei kleinen Kindern häufiges Sprechen besonders wichtig, denn ein starker Wortschatz wirkt sich positiv auf das Lernen aus: „Bei der Einschulung hat das eine Kind fast 40 Millionen Wörter gehört – das andere nur etwa acht Millionen. Solch ungleiches Training vor der Schule muss sich auf das Lernen, das vor allem über Sprache funktioniert, deutlich auswirken.“

Zwei Sprachen?

Immer wieder stellen sich die Eltern die Frage, ob Kinder schon früh eine Fremdsprache erlernen sollen oder wie man damit umgeht, wenn beide Elternteile unterschiedliche Sprachen sprechen. Gehirnforscher Manfred Spitzer erinnert, dass es einem erst dreijährigen Kind scheinbar mühelos gelingt, zwei Sprachen zu lernen, da Kinder zwischen drei und sieben Jahren automatisch lernen. Dabei hat es sich als günstig herausgestellt, wenn die Mutter immer ihre Sprache spricht und der Vater seine. Die Vorteile für das Kind sind laut Manfred Spitzer jedoch viel weitreichender als das alleinige Erlernen von zwei Sprachen. So hilft das Aufwachsen mit zwei Sprachen einem Kind, sich an neue Situationen zu gewöhnen und flexibler zu sein – auch im späteren Leben. Auch wenn Kinder einsprachig aufwachsen, ist eine Sache relevant: dass man viel mit dem Kind spricht und ihm antwortet, wenn es etwas sagt. Denn um Sprache zu erlernen, ist laut Manfred Spitzer vor allem eines wichtig: Kommunikation innerhalb der Familie und mit anderen. So vermittelt man dem Kind, dass Sprache die Beziehung zwischen Menschen verbessert beziehungsweise erst möglich macht.

Computer verhindern Lernprozesse

Auch die Digitalisierung spielt bei der Gehirnentwicklung eine entscheidende Rolle, wie zahlreiche Untersuchungen zeigen. So belegen jüngste Studien, dass Jugendliche, die sich schon seit ihrer Kindheit mit Smartphones, Computern und Tablets beschäftigen, zwei überdurchschnittlich veränderte Gehirnbereiche haben: jene der Aufmerksamkeit und jene der Empathie. Bei diesen Jugendlichen treten demnach Aufmerksamkeitsstörungen ebenso vermehrt auf wie eine Einschränkung der Empathie. Dennoch: In immer mehr Schulen werden Smartphones und Tablets eingesetzt. Kinder nutzen sie als kreatives Tool, und es gibt bereits Tablet-Klassen, in denen der Gebrauch zum Alltag gehört. GehirnforscherManfred Spitzer betrachtet den zu frühen Gebrauch von digitalen Produkten kritisch. Er sagt, dass das, was ihm und vielen Millionen anderen die Arbeit erleichtert, nicht die beste Freizeitgestaltung für Kinder und Jugendliche ist: „Computer nehmen mir und Millionen anderer ,Geistesarbeiter‘ Arbeit ab, daher werden sie benutzt. Weil aber geistige Arbeit die Voraussetzung dafür ist, dass im Gehirn gelernt wird, denn bei jeglichem Lernen ändert sich das Gehirn durch seine Benutzung, sind Computer keine Lernwerkzeuge, sondern sie verhindern Lernprozesse. Dies haben unzählige Studien gezeigt.“

Weil geistige Arbeit die Voraussetzung dafür ist, dass im Gehirn gelernt wird, sind Computer keine Lernwerkzeuge, sondern verhindern Lernprozesse.

Manfred Spitzer, Gehirnforscher und Buchautor

Zitatzeichen

Lernen muss Spaß machen

Ein weiterer Faktor, der dafür verantwortlich, dass Lernen funktioniert, ist Spaß. Während Kleinkinder die meisten Dinge mühelos lernen, geht der Spaß für ältere oft schon in der Volksschule verloren. Leistungsdruck, Schularbeiten, Notensysteme – all das spielt eine entscheidende Rolle, dass etwas, was anfangs reine Freude ist, nicht selten zur Qual wird. Doch wie sollen Eltern damit umgehen, wenn die Kinder lustlos sind, die Hausaufgaben keinen Spaß machen? Manfred Spitzer: „Ganz allgemein gilt, dass Lernen Freude macht und daher belohnend wirkt. Wenn dem nicht so ist, stimmt etwas nicht.“ Der Experte sagt, dass Zwang und Sätze wie „Reiß dich zusammen!“ die falsche Herangehensweise sind. Viel eher sollte man Kinder motivieren und ihnen zu verstehen geben, dass man ihren Frust versteht. Auch Belohnungen sollten nicht die Regel sein. Denn: Durch permanente externe Motivationen wie Süßigkeiten, Computerspielzeit oder gar finanzielle Belohnungen zerstöre man die grundlegend vorhandene innere Motivation, Neues zu lernen – und vergifte somit die Lernatmosphäre.

Kant statt Micky Maus

Schlussendlich am allerwichtigsten: dass Eltern ihren Kindern Freunde am Denken und am Lernen vermitteln – das fördert die kindliche Hirnentwicklung am besten. Manfred Spitzer ist deshalb überzeugt, dass man einem neun Monate alten Baby Kant statt  Mickey Maus vorlesen kann – allerdings nur, wenn man sich selbst für Kant begeistert. Denn schon Babys nehmen die Freude wahr, mit der ihnen Eltern etwas vortragen, und die Sprachentwicklung wird dadurch gefördert: „Wenn es demjenigen, der etwas macht, Spaß bereitet, dann hat auch der kleine Knirps Freude daran.“

Forum

Diskutieren Sie über diesen Artikel

Insgesamt 0 Beiträge

Wir setzen Cookies auf dieser Website ein, um Zugriffe darauf zu analysieren, Ihre bevorzugten Einstellungen zu speichern und Ihre Nutzererfahrung zu optimieren. weitere Informationen

The cookie settings on this website are set to "allow cookies" to give you the best browsing experience possible. If you continue to use this website without changing your cookie settings or you click "Accept" below then you are consenting to this.

Close