Erziehung

Unterstützung, Entlastung und Prävention

Martin Nagl-Cupal, Stellvertretender Vorstand des Instituts für Pflegewissenschaft, über die Situation von Kindern, die in der Familie pflegen.

Bei Minderjährigen, die ihre Eltern pflegen, gibt es wohl eine große Bandbreite. Von Kindern, die für alleinerziehende Eltern mit Liegegips Einkaufen gehen, bis zu schwerwiegenden Fällen, in denen Kinder viel mehr Aufgaben übernehmen. Wann spricht man von Minderjährigen, die pflegen?
Martin Nagl-Cupal: Entscheidend ist dabei unter anderem die Dauer, aber auch die Regelmäßigkeit, mit der dies geschieht. Es ist etwas Anderes, bei chronischen Erkrankungen zu helfen, bei Behinderungen und auch Einschränkungen wie Blindheit oder Taubheit. Bei chronischen Krankheiten ist außerdem der Verlauf entscheidend, wenn Verwandte etwa lange nichts brauchen, dann aber akut Hilfe benötigen. Eine besondere Situation sind psychische Erkrankungen von Eltern. Es gibt aber auch große Unterschiede in den Tätigkeiten, die von der Übernahme von Teilen des Haushalts bis zu körperlicher Pflege und medizinischer Hilfe reichen. Grundsätzlich geht es dabei um Dinge, die Gleichaltrige nicht tun, und die Übernahme von einem teilweise hohen Maß an Verantwortung.

Wie sehen das die Familien selbst?
Die Familie ist dabei ganz entscheidend. Es geht um Menschen, die zusammenleben, und in den meisten Familien leisten Kinder ihren Beitrag. Das mag banal klingen, aber im Fall einer Krankheit ist das eben eine spezielle Situation. Es scheint so, als wäre die Hilfe von Kindern gleichermaßen innerhalb von Familien naheliegend und gesellschaftlich nicht akzeptiert, weswegen zu wenig darüber gesprochen wird. Es ist ein Tabuthema, das Familien mitunter auch peinlich ist, bei dem manchen unklar ist, ob das Kinderarbeit ist, oder sie sich auch vor Konsequenzen durch das Jugendamt fürchten. Gleichzeitig neigen Familien aber dazu, Dinge intern zu regeln, so lange das möglich ist. Kinder tun das, was fehlt, füllen Lücken, wo sie entstehen, und übernehmen Verantwortung dort, wo sie anfällt.

Welche Rolle spielt hier die finanzielle Situation einer Familie?
Studien in ganz Europa zeigen, dass dies ein familiäres Thema ist und es derlei Situationen in allen Schichten und auch bei wohlhabenden Familien gibt. Auch wenn Geld natürlich eine Rolle spielen kann.

Muss das für Kinder zwangsweise negative Auswirkungen haben?
Nein, keineswegs. Die Kinder wachsen damit auf und in die Situation hinein. Ihr Zugang ist niederschwellig, und sie helfen gern. Es ist bedeutungsvolles Handeln, mit dem sie auch etwas für sich selbst tun. Manche werden dadurch früher reif und sehen subjektiv durchaus Vorteile. Aus den meisten Kindern sind erfolgreiche Personen geworden. Und auffällig viele haben später Berufe im Sozial- oder Gesundheitswesen. Probleme gibt es dann, wenn Situation oder Tätigkeiten nicht der
Entwicklung des Kindes entsprechen und es zu viel Verantwortung übernimmt. Dies und die latenten Ängste belasten mehr als die körperliche Tätigkeit, etwa die Angst, einen Elternteil zu verlieren, ihm nicht helfen zu können, oder die Unmöglichkeit, psychische Probleme einzuordnen und zu verstehen.

Kann man sagen, was der Entwicklung eines Kindes entspricht?
Hier muss man nochmal betonen, dass sich Kinder sehr unterschiedlich und individuell entwickeln. Grundsätzlich fängt die Hilfe der Kinder mit selbstverständlichem Zureichen an und endet nach der Pubertät damit, dass sie sich selbst in der Situation erkennen. Für Kleine ist es Alltag: Wenn Mama
das braucht, machen sie Frühstück, weil sie Mama gern haben.

Wie kann man die Kinder am besten unterstützen, welche Hilfe brauchen sie?
Es geht dabei immer um Unterstützung, Entlastung und Prävention, und die greifen auch ineinander. Bei Unterstützung geht es darum, was das Kind braucht, um den Alltag zu bewältigen: Hat es jemanden, der für das Kind da ist, und eine Telefonnummer, an die es sich wenden kann? Vorbereitung ist immer besser als das Negieren von Problemen. Bei der Entlastung geht es um einen Freiraum für betroffene Kinder, der möglichst groß sein soll. Es geht um einen Raum, in dem sie nur Kinder sein können. Und bei der Prävention geht es darum, dass Kinder nicht in solche Situationen kommen. Das setzt bei den zu Pflegenden und den kranken Familienmitgliedern selber an, bei Informationen und bei professioneller Hilfe, die angeboten wird. Hier geht es immer wieder um Bewusstsein, auch bei Ärzten und in Krankenhäusern. Es gibt Hausärzte, die nicht sehen, wenn ihre Patienten außer ihren Kindern niemanden haben, der sie unterstützt.

Forum

Diskutieren Sie über diesen Artikel

Insgesamt 0 Beiträge

Wir setzen Cookies auf dieser Website ein, um Zugriffe darauf zu analysieren, Ihre bevorzugten Einstellungen zu speichern und Ihre Nutzererfahrung zu optimieren. weitere Informationen

The cookie settings on this website are set to "allow cookies" to give you the best browsing experience possible. If you continue to use this website without changing your cookie settings or you click "Accept" below then you are consenting to this.

Close