Erziehung

Mutter, Vater, (Pflege-)Kind

Heike und Franz Podek wollten immer schon eine Schwester für die heute sechsjährige Finja. Da der ersehnte Nachwuchs ausblieb, haben sie sich entschlossen, ein Pflegekind aufzunehmen. Was bewegt Eltern, das zu tun? Was sagt das leibliche Kind zu diesem Schritt? Ein Einblick in das Leben einer Pflegefamilie.

Pflegekind

Elf Uhr vormittags, die Sommersonne breitet sich langsam aus. Ein Ehepaar mit zwei Mädchen spielt ausgelassen am Spielplatz. Da werden weder Klettergerüst, Sandkiste noch Rutsche ausgelassen. Ein Bild, das einen ganz normalen Familienalltag zeigt. Oder? Na ja, vielleicht nicht ganz. Das jüngere der beiden Kinder hat einen deutlich dunkleren Hautteint als alle anderen und scheint auf den ersten Blick so gar nicht in das typische österreichische Verwandtschaftsgefüge zu passen. Handelt es sich hier um eine moderne Patchworkfamilie, in die beide Partner ihren Nachwuchs aus erster Ehe eingebracht haben? Oder ist das vielleicht doch der Sprössling einer Bekannten, der hier babygesittet wird? Plötzlich ruft der dunkelhäutige Wonneproppen mit Kraushaar lauthals „Mama! Papa!“. Sofort breitet sich auf den hellhäutigen Gesichtern des Ehepaars ein glückseliges Grinsen aus, ehe die beiden simultan ihre gemeinsame Tochter auf der Schaukel anschupsen.

„Wir wollten immer mindestens zwei Kinder.“

Pflegekind

Die Podeks leben im idyllischen Örtchen Bad Sauerbrunn, wo sie ein hübsches Reihenhaus bewohnen, inklusive Riesenaquarium hinter dem Esstisch, einem niedlich schwarz-weiß gefleckten Hund namens Emil und Hasen, die im großen Luxusgehege ihr Dasein genießen. Egal, wo man im Podek’schen Heim hinsieht, zeigt sich das Bild einer durch und durch normalen Familie: Kinderzeichnungen schmücken die Wände, Stiegenschutzgitter bewahren vor dem Fall, Spielsachen türmen sich in jeder erdenklichen Ecke, und der Garten ist mit Baumhaus, Rutsche und Trampolin ein regelrechtes Spaß-Eldorado. Doch so klassisch perfekt sich die Umgebung auch zeigen mag, so wurde hier der ursprüngliche Wunsch auf ein komplett erfülltes Leben nicht gleich wahr gemacht. Denn schon immer war es der Traum von Mama Heike (40), Papa Franz (49) und ihrer leiblichen Tochter Finja (6), aus ihrem Dreierbündnis ein Viererteam zu machen.

Statt erneuter Schwangerschaft Pflegekind eine Option.

„Wir haben jahrelang versucht, dass ich nochmals schwanger werde, doch das wollte einfach nicht klappen. Als Finja immer älter wurde, wusste ich, dass ich nicht weiter warten möchte und habe begonnen, mich mit dem Thema Pflegekind auseinanderzusetzen. Obwohl ich zugeben muss, dass ich mir das vor einigen Jahren niemals hätte vorstellenkönnen“, erzählt Heike Podek, die in Bad Sauerbrunn gemeinsam mit ihrem Gatten eine Praxis führt, in der unter anderem erziehungsorientiertes Coaching, Psychotherapie und Hypnose angeboten werden. Viele ihrer Klienten sind Pflegekinder, Pflegeeltern oder gesamte Pflegefamilien, in denen es oft schwerwiegende Probleme unterschiedlichster Art gibt. „Als ich das erste Mal von meiner Frau ihre Idee mit dem Pflegekind hörte, habe ich sofort gesagt: nur über meine Leiche. Wir kannten aus unserem beruflichen Umfeld ja leider nur Horrorstorys und Negativbeispiele“, so Vater Franz.

Sogar die leibliche Tochter schlug ein Pflegekind vor.

Doch nach langem Überlegen erklärte sich der erfahrene Psychotherapeut bereit für ein Pflegekind, und das Ehepaar begann gemeinsam, sich mit Pflegefamilien zu treffen, in denen der Alltag gut klappt und die Geschichten sozusagen Happy Ends genommen haben. Ein Einverständnis ihrer Tochter Finja brauchten sie gar nicht extra einzuholen. „Finja kennt derartige Familiengefüge von unseren Nachbarn. Die haben zwei adoptierte Kinder aus Indien und zwei leibliche. Als wir dann eines Tages im Auto gefahren sind, hat unsere damals vier Jahre junge Finja plötzlich zu meiner Frau gesagt: Du Mama, wenn das doch nicht klappt und kein Baby in deinen Bauch kommt, können wir das nicht so wie unsere Nachbarn machen und auch ein anderes Kind aufnehmen?“, erinnert sich Papa Franz.

Pflegeeltern-Kurs und Sozialarbeiter-Besuch folgten.

Bald darauf ließ sich das Ehepaar beim Referat für Soziales, Kinder- und Jugendhilfe in Mattersburg beraten. Im Anschluss folgte ein insgesamt sechstägiger Vorbereitungskurs, in dem sie erfuhren, was es bedeutet, ein Pflegekind aufzunehmen. Immerhin muss Pflegeeltern bewusst sein, dass diese Kinder keine schöne Vergangenheit erlebt haben, die es später in der Geborgenheit der Pflegefamilie aufzuarbeiten gilt. Ein Besuch von Sozialarbeitern folgte, die überprüften, ob Haus und Familie auch wirklich kindgerecht waren. Ein Leumundszeugnis des Bürgermeisters wurde ebenso benötigt wie ein Attest vom Hausarzt. Mittels Fragebogen gibt man Pflegekind-Wünsche an. „Wir wurden außerdem gefragt, weshalb wir uns ein Pflegekind wünschen und ob wir bereit wären, Kontakt zu den leiblichen Eltern zu halten. Weiters sollte man angeben, welches Kind man sozusagen gerne hätte. Da wird man tatsächlich gefragt, ob man einen Bub oder ein Mädchen will. Das fand ich irgendwie schräg, weil man sich das bei einem leiblichen Kind ja auch nicht aussuchen kann. Gut fand ich aber, dass man zum Beispiel angeben konnte, ob man sich Missbrauchsopfer vorstellen könne, Kinder die eine sichtliche Behinderung aufweisen, oder Kinder aus Drogenverhältnissen. Immerhin muss man diesen Herausforderungen ja gewachsen sein“, erzählt die 40-Jährige. Auf diese Wünsche ging das Jugendamt gerne ein, denn man möchte nicht, dass die Pflegeeltern aufgrund von Überforderung ihre neu gewonnen Schützlinge wieder zurückschicken. Denn das passiert leider viel zu häufig.

Zehn von 100 Pflegekindern werden von Pflegeeltern wieder an die Behörden abgegeben, weil sie überfordert sind.

Beachtliche zehn von 100 Pflegekindern werden tatsächlich von ihren neuen Familien wieder an die Behörden abgegeben. Es ist dramatisch für das ohnedies bereits traumatisierte Kind, schon wieder „die Eltern zu verlieren“ und erneut „nicht gewollt zu werden“. Heike Podek: „Umgekehrt muss man als Pflegeeltern im Regelfall keine Angst davor haben, dass  der neue Schatz wieder entrissen wird. Nur eines von 100 Kindern kommt wieder zu seinen leiblichen Eltern zurück. In diesen Fällen ist das für gewöhnlich von Anfang an absehbar. Wir waren uns also sicher, dass unser Pflegekind immer unseres sein würde.“

Die meisten Pflegekinder sind eineinhalb bis zweieinhalb Jahre alt.

Fest steht außerdem, dass das Pflegekind immer das jüngste Mitglied der Familie ist. Das hat durchaus seine Gründe, denn die so gesprochene Rangordnung innerhalb der Familie soll erhalten bleiben und möglichst dem Naturell entsprechen. Das Ehepaar Podek wünschte sich ein Kind zwischen null und zweieinhalb Jahren. Diese doch recht weite Lebensspanne, die es als Wunsch angab, freute die Sozialarbeiter sehr, denn vor allem zwischen eineinhalb und zweieinhalb Jahren gibt es die meisten Kinder, für die ein Pflegeplatz gesucht wird. Das liegt daran, dass man in Österreich versucht, den teils überforderten Müttern und Vätern nach der Geburt zunächst einmal Hilfeleistungen anzubieten, ehe man deren Nachwuchs aus dessen Umfeld reißt. Scheitern jedoch Hebammen, Psychologen und Sozialarbeiter bei ihrem Versuch und es wird deutlich, dass das Eltern-Kind-Dasein in dieser Form nicht klappt, werden die Sprösslinge zuerst in Krisenpflegefamilien untergebracht, wo sie etwa ein halbes Jahr ihres Lebens verbringen. In diesen Monaten hofft man, rechtliche Angelegenheiten zu klären und Langzeitpflegeeltern zu finden. Ist das nicht der Fall, kommen sie später in Heime oder Wohngemeinschaften.

Kinder werden zuerst per Telefongespräch vorgestellt.

Bevor Heike und Franz Podek ihre Pflegetochter kennenlernen und liebgewinnen konnten, wurde ihnen ein anderes Kind angeboten. Doch bereits während des Telefonats mit der Sozialarbeiterin riet diese eher davon ab, da sie glaubte, es würde nicht zur lebhaften Finja passen, deren Lieblingsbeschäftigung das Klettern ist – im Boulderverein, aber auch privat am Spielplatz und auf Bäumen. „Ich finde, das ist großartig, dass die Jugendreferate hier großen Wert darauf legen, dass das Pflegekind gut in die Familie integrierbar ist und als Typ Mensch insbesondere zu den künftigen Geschwistern passt“, so Mama Heike. Nur kurze Zeit später klingelte aber erneut das Handy, und diesmal wurde von einem einjährigen Mädchen erzählt, das quietschlebendig, aktiv, besonders geschickt und ideal für Familie Podek sei.

Kennenlernen findet auf neutralem Boden statt.

Nach einem persönlichen Gespräch mit der Sozialarbeiterin lernte das Ehepaar Podek endlich ihre lang ersehnte kleine Feh* kennen, gemeinsam mit ihrer damaligen Krisenpflegemutter im Spielzimmer des Wiener Jugendreferates. „Dieses erste Aufeinandertreffen werden wir niemals vergessen. Wir sahen sie und wussten, sie gehört zu uns. Zwar haben wir noch eine Nacht darüber geschlafen, aber uns war klar, dass sie Teil unserer Familie werden würde“, erinnert sich Papa Franz an die erste Begegnung. Eine Woche lang hat er gemeinsam mit seiner Gattin Feh in ihrem damaligen Zuhause besucht. Danach haben sie das Mädchen mal auf den Spielplatz mitgenommen, bis letztlich Feh ihr zukünftiges Zuhause sehen durfte. Die Krisenpflegemama brachte sie mehrmals zu den Podeks nach Hause und holte Feh ein paar Stunden später wieder ab. Irgendwann jedoch wurde der kleine Lockenschopf nicht mehr abgeholt, sondern blieb. Mama Heike: „Feh war das aber relativ egal, dass ihre Krisenpflegemutter weg war. Sie hat nicht geweint. Es war kein Schock für sie, dass sie da plötzlich bei uns alleine gelassen wurde. Hier zeigt sich eben ihre Bindungsstörung. Sie lässt sich noch heute von jedem Erwachsenen trösten und ist von jeder unbekannten Person begeistert, sobald diese etwas zu essen dabei hat.“

Feh war nicht traurig, bei „Fremden“ zu sein.

Die ersten gemeinsamen Tage waren eine Herausforderung. „Die erste Nacht war eine Katastrophe für uns. Wir waren es von unserer Tochter Finja gewöhnt, dass wir sie in den Schlaf tragen. Noch heute lesen wir gemeinsam Bücher und kuscheln, bis sie müde wird. Bei Feh war das aussichtslos. Sie war pausenlos aufgedreht und ist nicht heruntergekommen, egal, was wir versucht haben. Irgendwann hat meine Frau dann der Krisenpflegemama eine SMS geschrieben. Diese meinte, wir sollen sie einfach ins Bett legen. Licht aus, Tür zu, und gut ist’s“, erzählt der Familienvater. Das taten sie dann auch und lauschten eine halbe Stunde am Babyphone, ob alles in Ordnung sei. Es war mucksmäuschenstill. Auf Zehenspitzen schlichen die Eltern irgendwann in Fehs Zimmer, um nachzusehen, ob es ihr gut geht. Da lag sie: regungslos auf dem Rücken, steif wie eine Mumie und starrte im Dunkeln mit offenen Augen an die Zimmerdecke. Mama Heike: „Ich habe tagelang vor ihrer Zimmertür geheult, weil ich nicht wusste: Geht es ihr gut oder nicht? Braucht sie was? Doch sie aus dem Bett zu nehmen und sie zu knuddeln, das half ihr nicht beim Einschlafen.“

Die Eltern mussten sich an ihre Pflegetochter gewöhnen.

„Heute, nach etwa zehn Monaten, ist das zum Glück schon viel besser. Feh lässt sich abbusseln, wir können auch schon ein Buch mit ihr gemeinsam anschauen, sie liegt bei uns im Bett, und sie schreit schon nach Mama und Papa, wenn sie etwas braucht oder sich weh tut. Sie beginnt eine besondere Vertrauensbeziehung zu uns aufzubauen und uns als ihre Eltern zusehen. Etwas, das sie bisher nicht gekannt hat“, erklärt Papa Franz. Aber auch das Ehepaar hat einige Zeit benötigt, um Feh als ihre eigene Tochter wahrzunehmen. Immerhin kam sie von heute auf morgen in die Familie. Heike: „Bei Finja hatten wir neun Monate Zeit, uns auf sie einzustellen und uns auf sie zu freuen. Und dann, nach der Geburt, tastet man sich langsam heran. Das war ein natürlicher Prozess. Feh war plötzlich da und da schon eineinhalb Jahre alt.“ Heute aber ist das kleine freche Mädchen eindeutig die Tochter des Ehepaars Podek. Da wird geschmust, gekitzelt und gelacht. Hier wird kein Unterschied zwischen „leiblich“ und „in Pflege“ gemacht. Geliebt werden hier beide Kinder innig, und wenn man die Eltern fragt: Wie viele Kinder habt ihr? Dann kommt wie aus der Pistole geschossen: „Zwei Töchter.“

Pflege ist für die Kinder besser als Adoption.

Die leibliche Mutter sucht den Kontakt zur kleinen Feh bislang nicht. Vermutlich wird sie das auch nie. Familie Podek weiß aber, wo die Geschwister ihrer Pflegetochter untergebracht sind, zum Teil bei Pflegefamilien, zum Teil in betreuten Wohneinheiten. Diese Brüder und Schwestern wollen sie bald aufsuchen, denn es sei für die eigene Entwicklung gesund, zu wissen, wer man ist und wo man herkommt. „Deshalb hatten und haben wir auch nicht das Bedürfnis, Feh eines Tages zu adoptieren. Studien zufolge ist ein Pflegeverhältnis für die Kinder sogar besser als eine Adoption. Adoptierte Kinder wissen nämlich später nichts über sich selbst und ihre Vergangenheit. Das kann zu Problemen führen, zu regelrechten Identitätskrisen. Die Frage ‚Wer bin ich?‘ ist absolut essenziell. Pflegeeltern müssen aber auch die Kinder wieder auffangen, wenn möglicherweise der Kontakt zu den leiblichen Eltern aufwühlend ist“, so Vater Franz. Und wie ist das Verhältnis zwischen der leiblichen Tochter Finja und der kleinen Feh? Sie lieben einander heiß und hassen einander innig – wie es Geschwister nun mal tun sollten. Da wird zuerst einträchtig im Garten gespielt, und die Hasen werden gemeinsam mit Salat gefüttert, ehe plötzlich ein Schrei ertönt und das große Mädel brüllt: „Mama, Feh hat mich getreten!“ Und wenige Minuten später, nachdem die ersten Tränen versiegt sind, zahlt Finja es ihrer Schwester heim: Sie holt sich aus der Küche einen Muffin und nascht ihn genüsslich vor den Augen von Feh, woraufhin diese einen Tobsuchtsanfall erleidet, weil sie jetzt natürlich auch etwas Süßes essen möchte. Das Resultat: Mama Heike weist die Sechsjährige zurecht, dass das nicht fair sei, und Papa Franz löst das Problem, indem er der Zweijährigen ein Stück des selbstgebackenen Striezels in die Hand steckt. Ende gut, alles gut.

*Feh: Name wurde aus Datenschutzgründen von der Redaktion geändert.

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