Gesundheit

Kinder brauchen Dreck

Das Wunderwerk Immunsystem durchläuft beim Heranwachsen eines Kindes mehrere Phasen. Hygiene, Schmutz, Familie und Kindergarten spielen dabei eine wichtige Rolle.

Es gibt einen alten Witz, der unter frischgebackenen Eltern gern erzählt wird – vermutlich kennen Sie ihn: „Wie verhältst du dich, wenn dem Baby der Schnuller auf den Boden fällt? Beim ersten Kind: Du packst den Schnuller in die Tasche, bis du ihn daheim waschen und sterilisieren kannst. Beim zweiten Kind: Du spülst ihn mit etwas Tee aus der Babyflasche ab. Beim dritten Kind: Du wischst den Schnuller an deinem T-Shirt ab und stopfst ihn wieder zurück.“ Mehrfacheltern fühlen sich hier mitunter ertappt, aber die Gelassenheit im Umgang mit ganz alltäglichem Schmutz hat durchaus Vorteile. Unser Immunsystem ist ja grundsätzlich dafür ausgestattet, einiges auszuhalten. Und das schon von Geburt an.

Basisschutz endet im siebenten Lebensmonat

Im Laufe des Heranwachsens im Mutterleib entsteht auch die Immunabwehr des Kindes. Zuerst im völligen Einklang mit der Mutter. Während der Schwangerschaft werden die mütterlichen Antikörper an das ungeborene Kind weitergegeben. „Wenn es gesund ist und keinen Immundefekt hat, kommt ein Kind mit dem Immunsystem eines Erwachsenen auf die Welt“, erklärt der Kinderarzt Tamás Fazekas. Und diese Antikörper schützen das Kind auch weiter, etwa bis zum siebenten, manchmal achten Lebensmonat. Man spricht hier vom sogenannten Nestschutz. Fazekas: „Im Prinzip ist das Immunsystem eines Neugeborenen
sehr gut ausgerüstet durch die Antikörper der Mutter. Aber das eigene Immunsystem muss erst ausreifen und sich an die Umgebung anpassen.“ Dieses beginnt erst zu lernen, wenn wir auf der Welt sind, und kann
sich so bestens auf die jeweilige Lebensumwelt einstellen. Im Laufe der Evolution hat sich das hervorragend bewährt, allerdings bedeutet das auch, dass ein Kind, das im Alter von fünf Monaten gegen einen bestimmten Keim immun war, dies im Alter von zehn Monaten nicht mehr ist. Wenn die mütterlichen Antikörper abgebaut werden und das Baby noch nicht so viele eigene Antikörper entwickeln konnte, ist es am anfälligsten für Infekte.

Bootcamp fürs Immunsystem

„Wir besitzen generell ein adaptives Immunsystem, das sich an die Umstände anpasst“, sagt Peter Voitl, Kinderfacharzt in Wien. Durch den Nestschutz, sind Kinder in den ersten sechs Lebensmonaten selten krank. „Da haben sie kaum Infekte. Ein Zeitfenster, das man daher gerne zum Impfen ausnutzt.“ Durch ältere Geschwister, die vielleicht schon im Kindergarten sind, durch ein frühes Abgeben bei Tagesmüttern oder in Kinderkrippen wird das kindliche Immunsystem permanent mit neuen Erregern konfrontiert. Dadurch werden Kleinkinder nach dem ersten halben Lebensjahr sechs- bis achtmal, ja vielleicht sogar zehnmal im Jahr krank. Das ist ganz normal und sollte keinen Anlass zur Besorgnis geben. Das Immunsystem übt eben und lernt, sich in Zukunft vor einer immer größeren Anzahl von Erregern zu schützen. Sind Kinder allerdings öfter krank oder haben unter besonders langwierigen Infektionen zu leiden, könnte etwas nicht stimmen. Dann muss der Arzt eingeschaltet werden.

Die Hygiene spielt eine Schlüsselrolle

Übrigens ist Infektion nicht gleich Infektion. Fazekas: „Es dauert wirklich Jahre, bis das Immunsystem lernt, mit der Umgebung umzugehen, und das heißt vor allem mit den Viren. 90 Prozent der Infekte im Kindesalter sind viral, weil das angeborene Immunsystem besser gegen Bakterien gerüstet ist. Die Häufigkeit nimmt im Laufe der Jahre deutlich ab, und bei Erwachsenen sind es nur noch 50 Prozent virale Infektionen und die anderen 50 Prozent sind bakterielle.“ Eine wesentliche Rolle spielt auch die Hygiene. Allerdings handelt es sich in diesem Bereich um einen heiklen Balanceakt. Davon weiß der Hygieneexperte Manfred Berger einiges zu berichten. Zwei Bücher hat er zu diesem Thema geschrieben, die sozusagen die beiden Pole des Themas abdecken: „Hysterie Hygiene“ und „Wunderwaffe Hygiene“.

Kurz gesagt: Zu viel und echter Schmutz, besonders solcher in der Stadt außerhalb der Wohnung, kann das kindliche Immunsystem überfordern und zu – vermeidbaren – Krankheiten führen. Das gilt etwa auch für Straßenschmutz, den man mit in die Wohnung bringt. Umgekehrt herrscht in einer Wohnung eine sogenannte schützende Keimeinheit. Berger: „Das heißt, wenn man eine Zeit lang als Familie in einer Wohnung lebt, entwickeln sich dort positive Keimstrukturen, die auch dafür sorgen, dass Keime, die von außen einzudringen versuchen, abgewehrt werden.“ Dafür muss man sie aber natürlich auch unterstützen, erklärt Berger. Es sei daher absolut nicht sinnvoll, daheim fanatisch zur Flächendesinfektion zu greifen. „Das bringt genau den gegenteiligen Effekt.“

Desinfektionsmittel, klinische Alkoholsprays nach dem Händewaschen und Mittel, die Keimfreiheit von bis zu 99 Prozent versprechen, sind im privaten Umfeld nicht notwendig. Im Gegenteil: Gerade übertriebene Hygiene scheint einer der Hauptfaktoren bei der Entstehung von Allergien zu sein – besonders in den ersten Lebensmonaten. Denn viele Allergien, mit denen man sich schlimmstenfalls ein ganzes Leben lang herumschlagen muss, entwickeln sich bereits in frühester Kindheit. Dazu der Allergologe Christof Ebner: „Das familiäre Vorkommen von Allergien ist zwar ein starker Risikofaktor, aber in den letzten Jahrzehnten hat sich auch der sogenannte ‚westliche Lebensstil‘ als wesentlicher Risikofaktor herauskristallisiert.“ Das beinhaltet unter anderem eben übertriebene Hygiene. „Kinder müssen nicht mit sterilisierten Dingen spielen, aus sterilisiertem Geschirr gefüttert werden etc. Es ist etwa ganz natürlich, wenn ein Kind etwas vom Boden nimmt und auch in den Mund steckt. Der Kontakt mit der bakteriellen Flora um uns schult das Immunsystem, es lernt, zwischen ‚gefährlich‘ und daher abzuwehren und ungefährlich, also zu tolerieren, zu unterscheiden.“

Der Stall als Allergiestopper

Und da ist dann noch diese Sache mit dem Stall. Ein wirksamer Schutz gegen Allergien scheint auch hier nur zu entstehen, wenn man tatsächlich auf einem Bauernhof aufwächst. Den Forschern ging es in Studien dazu daher auch mehr um das Prinzip: Es wird nach dem Faktor gesucht, der den Schutz erzeugt. Derzeit weist einiges auf eine spezielle bakterielle Komponente hin. Ebner: „Diese Kenntnis soll dann später für eine Schutzmaßnahme genützt werden, so wäre in Zukunft sogar eine prophylaktische Schutzimpfung gegen Allergien denkbar.“

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