Erziehung

„Eltern müssen ihre Führungsverantwortung wahrnehmen“

Interview mit Familienberaterin Martina Leibovici-Mühlberger über unsere Tyrannenkinder.

Martina Leibovici-Mühlberger ist Gynäkologin, Psychotherapeutin und Erziehungsberaterin und hat mit „Der Tyrannenkinder-Erziehungsplan“ ihr neuntes Buch vorgelegt. Selbst Mutter von vier Kindern behauptet sie, wir ziehen Tyrannen groß. Welche Ursachen dahinter stecken und wie kindgerechtes Aufwachsen gelingt, erzählt sie im Gespräch.

familiii: Sie bezeichnen die heranwachsende Generation als Tyrannenkinder. Was ist ein Tyrannenkind?
Martina Leibovici-Mühlberger: Unter Tyrannenkinder werden jene Kinder verstanden, die pädagogisch gesehen verhaltensauffällig sind und als schwierig erachtet werden. Man sagt ihnen auch nach, dass sie emotional sehr instabil sind. Sie haben gemein, dass sie schlecht lenkbar sind und dass sie immer das Gegenteil von dem wollen, was man bereit ist ihnen zu geben. Sie wollen stattdessen ständig im Zentrum des Geschehens stehen. Diese Kinder erfahren keine Grenzen und gibt man ihnen nicht das, was sie wollen, werden sie zu Tyrannen. Langfristig gesehen werden diese Kinder schwierig, unausstehlich und vor allem unselbstständig.

Wie reagieren Eltern und Pädagogen im Alltag auf die Tyrannen?
Leibovici-Mühlberger: Tyrannenkinder werden von Pädagogen als große Belastung erlebt. Eltern sind oft ängstlich und verunsichert im Umgang mit ihnen. Oder versuchen ständig die Bedürfnisse der Tyrannenkinder zu befriedigen. Eltern werden dann zum ängstlichen Kumpel, der das Kind bei Laune halten möchte, damit es ja nicht emotional ausbricht. Das funktioniert aber nur so lange, bis die Systeme härter werden. In der Schule oder in der Lehre heißt es dann: Willkommen in der Realität. Prinz und Prinzessin kann man dann nicht mehr spielen.

Was läuft falsch in der Erziehung?
Leibovici-Mühlberger: Wir unterliegen gesellschaftlich neuen Erziehungsdogmen. Dazu zählen: übergroße Freiheit und Potenzialentfaltung. Beides klingt zunächst wunderbar. Aber das überfordert in der gelebten Form die Kinder, da es keine Grenzen setzt und die Beliebigkeitskultur fördert und die Eltern ihre Führungsverantwortung nicht wahrnehmen, weil sie sich nicht mit dem Kind anlegen wollen. Stattdessen vertrauen sie auf die Selbstregulation des Kindes. Damit lassen wir aber unsere Kinder massiv im Stich.

Braucht es demnach wieder mehr Autorität in der Erziehung?
Leibovici-Mühlberger: Ja, aber diese Autorität kann liebevoll als Führungsverantwortung gelebt werden und um Gottes Willen nicht autoritär. Wir sollen nicht mit unseren Kindern schreien, sie strafen oder gar eine g’sunde Watschen verabreichen.

Das klingt, als würden sämtliche Väter und Mütter nicht wissen, wie sie ihre Kinder erziehen sollen.
Leibovici-Mühlberger: Das ist vielfach so. Viele Eltern lassen ihren Alltag durch ihre Kinder regulieren. Nach dem Motto: Na, wie Sohnemann und Töchterchen eben wollen, sie werden schon wissen, wie sie tun. Eltern verlangen das Einverständnis ihrer Kinder in jeder Situation von ihnen ab.

Sprich, um das Kind wird die ganze Familie und der Alltag gebaut.
Leibovici-Mühlberger: Genau! Und das Kind ist die Leitfigur und gibt den Ton an. Das Kind soll die Führung vorgeben. Und das überfordert die Kinder und die Tyrannenkinder zeigen uns das laut und deutlich.

 

Hat uns die Gesellschaft gezeigt, dass Führung nicht gut ist?
Leibovici-Mühlberger: Ja. Denn Führung ist Synonym für autoritär. Führung ist böse und Führung ist gleich Potenzial kaputt machen. Und jetzt wollen wir das alles nicht und sagen daher zu allem „Ja“ und lassen uns von unserem Kind leiten. Sonst sind wir vielleicht noch schuld, dass das Kind am Ende keinen Nobelpreis bekommt. Hinzu kommt ein enormer Druck, aus dem Kind das Beste und Größte zu machen. Bei 1,4 Kindern im Durchschnitt ist das ja unsere einzige Chance.

Was bedeutet für Sie kindgerechtes Aufwachsen?
Leibovici-Mühlberger: Dass man Kind sein darf. Dass man eine Entwicklung in einer artgerechten Lebenshaltung erfährt. Ich muss nicht als Fünfjähriger entscheiden, wo die Familie auf Urlaub fährt. Ich darf mich vertrauensvoll meinen Eltern und ihren Entscheidungen hingeben. Und in diesem Rahmen die Talente fördern. Das wäre eine unbelastete Kindheit. Zudem lernt man soziale Anpassung. Ich lerne, dass ich ein soziales Wesen bin. Mir wird zwar verdeutlicht, dass ich ein einzigartiges Kind bin, aber ich bin nicht mehr wert als jemand anderer. Alle anderen sind auch einzigartig und wir wollen gemeinsam zusammenwirken und auch fair miteinander umgehen und leben können. Und das gelingt, wenn Eltern Rollenverantwortung übernehmen und altersadäquate Grenzen setzen.

Welche guten Eigenschaften bringen die Tyrannenkinder hervor?
Leibovici-Mühlberger: Diese Kinder sind enorm sensibel. Sie sind sehr differenziert spürend und sehr reflexionsstark. Sie können sich schon frühzeitig eigene Ideen und Meinungen bilden und haben eine starke Veranlagung im Gerechtigkeitssinn.

Wie gelingt nun die Sozialisierung der Tyrannenkinder?
Leibovici-Mühlberger: Eltern und Institutionen müssen ihre Rolle kennen und leben. Wir müssen Kinder zu einer Gemeinschaft sozialisieren und dabei voraussetzen, dass wir Kinder schützen müssen und nicht durch Kommerzialisierung fördern. Wenn die Sozialisierung gelingt, dann sind es genau die Tyrannenkinder, die aufgrund ihrer Eigenschaften extrem sozial ausgerichtet sind.

 

 

Buchtipp:

Martina Leibovici-Mühlberger
Der Tyrannenkinder Erziehungsplan
Erschienen im edition a Verlag  2018

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