Erziehung

Abenteuer Freiheit

Alleine zum Bäcker, eigenständig Konflikte lösen, im Freien übernachten – Kinder wollen die Welt entdecken. Dafür müssen wir sie aber auch ziehen lassen.

Noah ist acht. Täglich fährt sein Vater ihn mit dem Auto in die Schule, sie liegt praktisch auf dem Weg in die Arbeit. Nach der Schule werden Noah und seine Klassenkollegen schon von der Hortbetreuung vor dem Schultor erwartet. Sonja ist zehn. An den Nachmittagen ist sie meistens zuhause, alleine hinaus geht sie nie. Der sechsjährige Levi besucht seit diesem Jahr eine Ganztagsschule, drei mal die Woche geht es nach dem Unterricht noch zu Klavierunterricht, Tanzen und Turnen. Das macht Spaß, aber wenn er danach endlich nach Hause kommt, ist meist nur noch Zeit für das Essen und es geht ab ins Bett. Noah, Sonja und Levi leben das ganz normale Leben Sechs- bis Zehnjähriger. Sie haben volle Terminkalender, fürsorgliche Eltern – nur Zeit für Abenteuer bleibt dabei kaum. Damit stehen sie prototypisch für ein Phänomen, das unsere Gesellschaft bereits seit etwa 20 Jahren mehr und mehr durchzieht: Soziologen nennen das „Verinselte Kindheit“.

Kinder unter Dach und Fach.

Und das bedeutet: Kinder halten sich immer weniger im Freien auf. Sie dürfen ihre Umgebung nur selten alleine entdecken, ihr Alltag ist durchorganisiert. Sie streifen nicht unbeobachtet durch die Nachbarschaft, bewegen sich stattdessen zwischen eigens geschaffenen Kinderräumen hin und her – also Schule, Ballettunterricht, Spielplatz, Fußballtraining. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig: Das hat mit der wachsenden reglementierten Kinderbetreuung am Nachmittag ebenso viel zu tun wie mit der steigenden Verstädterung und fehlenden städtebaulichen Freiräumen. Aber auch das subjektive Gefühl von lauernder Gefahr, der verständliche Wunsch der Eltern, ihre Kinder zu schützen und zu behüten, wirkt dabei mit. „Unsere Wahrnehmung von Gefahren ist viel stärker geworden, obwohl die tatsächliche Zahl der Gewalttaten zurückgegangen ist“, weiß Nicola Schmidt. Die Journalistin und Erziehungsexpertin hat gemeinsam mit ihrer Kollegin Julia Dibbern ein Buch geschrieben, dass Eltern Mut zu mehr Gelassenheit machen will, das aufzeigt, warum Kinder Freiraum und Abenteuer wirklich dringend brauchen und warum wir ihnen das zugestehen sollten. Etwa, weil Kinder vor allem dann an der Welt wachsen, wenn sie sie eigenverantwortlich erleben können. Doch für Eltern ist es nicht immer leicht, ihre gut beschützten und behüteten Kinder „hinausziehen“ zu lassen. Mit „Wild World“ zeigen die Autorinnen nun verschiedene Wege auf, die das leichter machen könnten, und erklären vor allem, warum Kinder davon profitieren. „Ich würde gar nicht sagen, dass es allen Eltern schwer fällt, loszulassen. Aber natürlich ist das Abgeben von Kontrolle, das Abgeben von Gewissheiten immer eine Herausforderung in unserem Leben. Denn loslassen bedeutet eben auch, Ungewissheiten und Rückschläge zu ertragen. Zu ertragen, dass es auch mal schiefgeht, wenn wir nicht dabei sind“, so Schmidt.

Kinder brauchen Freiheit.

Selbstwirksamkeit, Autonomie, die Mitgestaltung der Umwelt und persönliches Wachstum sind allesamt Faktoren, die für die menschliche Zufriedenheit ebenso wichtig sind wie positive Beziehungen und Selbstakzeptanz, wird die amerikanische Psychologin Carol Ryff in „Wild World“ auch zitiert. Damit diese Fähigkeiten ausgebildet werden können, brauchen Kinder neben guten Vorbildern und sicherer Bindung auch die Gelegenheit, sich auszuprobieren – und zwar nach Möglichkeit unbeobachtet und unkommentiert. Der Impuls, dem Kind ständig Lösungen anzubieten, noch einen Apfel in die Tasche zu packen und eine Notfallnummer obendrauf, es höchstens im eigenen Garten allein spielen zu lassen und mit den Eltern der Klassenkameraden eine WhatsApp-Gruppe zu bilden, ist bis zu einem gewissen Grad durchaus nachvollziehbar und trägt einem nicht unbedingt den ungeliebten Stempel der „Helikoptereltern“ ein. Aber: Gefahren stets fern- und Risiken klein zu halten, ist dennoch der falsche Weg, wenn es darum geht, Kinder zu eigenständigen, offenen jungen Erwachsenen heranwachsen zu lassen. Zu Menschen, die sich in andere hineinfühlen können und kompetent Probleme lösen. Und Pippi-Langstrumpf-Flair kommt zwischen organisierten Playdates und der Hausaufgabenbetreuung natürlich auch nicht auf. „Kinder müssen Fehler machen dürfen, Dinge ausprobieren“, sagt Nicole Schmidt, denn nur durch eigene Erfahrungen finden sie auch ihren Weg. Ein nicht unwichtiger Grund dafür, dass es Eltern heute schwer fällt, ihre Kinder einfach losziehen zu lassen, ist, dass sie das selten im Schutz der Gruppe tun. Das belegt auch der Erfurter Kindheitsforscher Burkhard Fuhs anschaulich. Im Rahmen seiner Arbeit „Kinderwelten aus Elternsicht“ attestiert er der aktuellen Kindergeneration nämlich eine Art „Ich-Kindheit“. Während Erwachsene aus ihrer Kindheit in den 50er- und 60er-Jahren stets in Wir-Form sprechen, berichten Kinder heute in der Regel in Ich-Form.

Gefahren, die Kinder lieben.

Aber was bedeutet das nun für all die liebevollen, fürsorglichen Eltern, die ihren Kindern zwar nicht im Weg herumstehen wollen, aber trotzdem nicht genau wissen, wie sie das anstellen sollen? Schmidt und Dibbern haben für sie vor allem aufbauende Worte: „Wir sagen oft, vertrauen Sie auf das, was Sie ihrem Kind bisher mitgegeben haben, vertrauen Sie auf ihre Erziehung.“ Denn wenn wir unseren Kindern ein gutes Fundament aus Nähe, Vertrauen und Sicherheit gebaut haben, kann letztlich gar nicht so viel schiefgehen. Dabei mögen Kinder besonders gerne bewältigbare (!) Gefahren, denn die verströmen Nervenkitzel, und damit die Chance, an ihnen zu wachsen. Zu den klassischen Lieblingsrisiken zählen dabei große Höhen, und hohe Geschwindigkeiten, gefährliche Werkzeuge und Elemente. Die finden sich in manch städtischem Hinterhof, noch häufiger aber in freier Wildbahn, inmitten der Natur. Wer selbst selten im Grünen ist, der kann auf sogenannte Wildnisschulen zurückgreifen – Initiativen wie etwa die österreichweit aktive „Waldläuferbande“, die Kindern ab sieben die Gelegenheit bieten, Abenteuer zu erleben und ein paar ihrer Lieblingsgefahren zu meistern. Selber Feuer machen, zum Beispiel, im Freien übernachten oder auf Spurensuche gehen. Für den Anfang reicht es aber vielleicht auch, die Blickrichtung zu ändern. Auch wenn das nur heißt, ein Buch zu lesen, statt die Kinder zu beobachten.

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